Vorwort: Kurz nach
der Grenzöffnung der DDR veranstalteten einige Lauffreunde einen
Staffellauf durch die ehemalige DDR. Eine 725km lange Route von Süd
nach Nord, die sie in 7 Tagen zurücklegten. Unter ihnen war auch
Erich Tomzig, der seine Erlebnisse in einem Bericht niederschrieb.
(Laufen-in-Koeln)
Ein grenzenloser Lauf
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Dienstag, 13. März 1990 (112
km). Die Grenzer waren über unser Vorhaben informiert, wir tauschten
unsere T-Shirts gegen Fahnen der DDR ein. Eine 13köpfige Läuferschar
startete gemeinsam mit uns vom südlichsten Punkt, einem Grenzstein
im Niemandsland. Ein Soldat gab den sinnbildlichen Startschuss durch
Handklatschen und es begann diese erste Etappe gelaufen durch Alfons
mit einer langen Steigung bei klarem Himmel mit Temperaturen um 0
Grad. Auf den Hängen links und rechts lag noch Schnee. Bis Adorf
liefen wir über die stark befahrene Transitstrecke ständig im Schutz
der Polizei. 2 Läufer aus Karl-Marx-Stadt begleiteten uns den
gesamten Tag in gleichem Wechsel wie wir. Zu bedauern war Gerd; bei
diesen Temperaturen, untertourig fahrend, musste er alles anziehen
was verfügbar war, um warm zu bleiben. Wir erlebten den wohl
schönsten Bereich des Erzgebirges über Klingenthai nach Schönheide,
ein ständiges Auf und Ab durch Wälder entlang von Stauseen. Aber
welcher krasse Unterschied sollte uns an diesem Tag noch erwarten.
Zwar vorgewarnt durch Briefwechsel mit dortigen Sportlern, erlebten
wir abends das Industriegebiet von Aue über Stollberg nach
Karl-Marx-Stadt in der „Rush Hour" von der extrem schlechtesten
Seite. Die allgemeine Luftverschmutzung gab uns das Gefühl eine
Entzündung der Luftwege zu haben. Alle waren wir abends heiser. Auch
auf dieser Etappe stellten wir Ungenauigkeiten in unserem
Kartenmaterial fest, aber immer waren die Strecken länger und so
erreichten wir eine Stunde später wie geplant bei vollkommener
Dunkelheit Karl-Marx-Stadt. Nach heißer ausgiebiger Dusche und
verspätetem Abendessen fielen wir wie tot in die Betten. Unsere
Gastgeberin versprach uns, ihre um 5 Uhr beginnende Frühschicht mit
der Zubereitung unseres Frühstücks am nächsten Morgen zu
unterbrechen, damit wir wohl versorgt erneut starten könnten.
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Mittwoch, den 14. März
1990 (95km). Sie hatte Wort gehalten und so konnten wir guten Mutes
vom Rathaus Karl-Marx-Stadt auf unsere nächste Etappe gehen. Ca. 20
km weniger wie die letzten Tage, aber man soll den Tag nicht vor dem
Abend loben. Einige Läufer begleiteten Alfons und mich bis Freital,
von da aus ging es landschaftlich sehr schön durch den Tharanter
Wald Richtung Dresden. Auf einmal, ein Läufer kam mir entgegen,
„bist Du es Erich?" „Ja, dann kannst du nur Stefan sein", Umarmung
aus Freude dass wir uns trafen. Wir hatten vorher schon brieflichen
Kontakt. Und weiter ging es mit vorbildlicher Polizeibegleitung
Richtung Dresden. Von der Stadtgrenze liefen wir gemeinsam, Alfons,
Stefan
und ich. Das Zentrum war leider für den Straßenverkehr gesperrt und
so liefen wir ohne obligatorisches Erinnerungsfoto entlang der
Semper Oper und des Zwingers. Stadtauswärts benutzten wir die
Hauptstraße in Richtung Meißen, plötzlich nur noch Schotter,
Schlaglöcher, die die Einrichtung unseres Wohnmobils durcheinander
brachte; laut Aussage von Anliegern wird das Kopfsteinpflaster in
den Westen für harte DM verkauft, aber keiner weiß, wie lange das
Schild „Achtung Baustelle" noch stehen wird.
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Da unser Wohnmobil uns durch die
ständigen Umleitungen verfehlte, war Alfons, der vor Dresden schon
seinen Teil abriss, und durch ständigen Regen so ausgekühlt war,
bereit, sich durch Polizei oder Taxi zum Wohnmobil bringen zu
lassen. Gerd, der jedes Schlagloch über Po-Meter registrierte,
begleitete mich weiter. Ca. 20 km vor Meißen trafen wir auf eine
große Läufergruppe, informiert durch Dietmar Heinrich. Er hatte dort
alles organisiert (incl. Geburtsurkunde) und zum Einlauf in die
Stadt alles voll im Griff, und so erreichten wir den Marktplatz
unterhalb der Marksburg mit Blaulicht und Sirenen inmitten einer
Wahlveranstaltung (Zufall). Erinnerungen an meine Geburtsstadt
wurden wach und viele Geschenke wurde mir übergeben und zu Fuß
gingen wir gemeinsam durch die Altstadt von Meißen. Den Abend
beschlossen wir in gemütlicher Diskussion mit vielen Sportlern bei
Dietmar zu Hause, Dank seiner Frau.
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Donnerstag, den 15. März 1990
(121km). Die Polizei erwartete uns schon vor unserem Start an
Dietmars Wohnung (vor einem halben Jahr noch undenkbar!). Gemeinsam
starteten wir bis an die Stadtgrenze Meißens. Zwei weitere Läufer
begleiteten uns bis Torga über 73 km. Aber welch Tücke der
Landkarte, geplant war über Mühlberg zu laufen, auf unserer Karte
links der Elbe, nur der Ort lag auf der anderen Seite ohne Brücke,
und die Polizei nahm ihre Aufgaben sehr genau und durch diese
Unstimmigkeiten musste Alfons mit seinen 2 Mitläufern fast
zweieinhalb Stunden ohne Begleitung und Unterstützung laufen.
Schluss endlich trafen wir wieder zusammen und ich konnte ihn
ablösen. Nach weiteren 3 Wechseln trafen wir wieder auf eine größere
Gruppe von Sportlern aus Wittenberg und Umgebung. Es tauchte ein
Fahrzeug vor uns auf, geschmückt mit dem Banner des DTSB und kleinen
Wimpeln gefahren von Frau Roh aus Absdorf/Wittenberg. Gemeinsam mit
Läufern der BSG Chemie Piesteritz und Freunden von Klaus-J. Roh
erreichten wir Wittenberg. Da mehrere Einladungen ausgesprochen
wurden, einigten wir uns auf gemeinsames Abendessen in einem
Sportheim und gemütlichem Ausklang bei Familie Roh am offenen Kamin.
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Freitag, den 16. März-1990 (nur
93km, aber wieder eine Ente). Durch Vermittlung von Lothar Matthes,
7.30 Uhr Empfang bei Bürgermeister Hans-J.Schmidt im Wittenberger
Rathaus. Danach Startschuss, eine komplette Klasse der Berufsschule
für Fahrzeugbau schickte uns mit dem Bürgermeister auf die Reise,
nur noch 93 km bis Berlin, eine unserer leichtesten Ãœbungen. Der
Anfang der Etappe war ruhig, Wechsel auf Wechsel, bis in der Nähe
von Treuebritzen, ein Trabbi fuhr neben mir her, ein älterer Herr
(Entschuldigung) in dunklem Anzug und Krawatte schaute heraus und
sagte, „ich begleite Euch nun bis nach Ost-Berlin". Es war Werner
Zock, einer der bekanntesten Organisatoren der Berliner Laufszene.
An allen markanten Punkten fotografierte er unseren Durchlauf, die
letzten Kilometer bis zur Glienecker Brücke in Potsdam begleiteten
uns 7 Läufer die mangels Ausweise (!) die Grenze nach West-Berlin
nicht passierten (oder durften). „Ihr werdet da drüben erwartet",
sagten sie uns. Aber die Enttäuschung war riesengroß! Trotz
Abendstunde und vorheriger Zusage lief kein Schwein (entschuldigt
den Ausrutscher) die 30 km durch West-Berlin mit uns. Angekommen am
Brandenburger Tor, Ziel unserer Tagesetappe, erwartete uns als
einziger Werner Zock, welche Ernüchterung nach dem tollen Empfang in
Leipzig. Aber was soll's, Werner hatte alles im Griff (trotz
fehlender Dusche). Er las uns jeden Wunsch von den Lippen ab. Trotz
später Stunde bei akuter Sehnenscheidenentzündung meinerseits noch
Arztbesuch bei Dr. Dorit Rösler, die mir durch ihre Behandlung die
letzten Kilometer erträglich gestaltete.
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Samstag, den 17. März 1990.
Ruhetag. Als Ehrengäste gaben wir den Startschuss zum Frühjahr im
Wäldchen. Danach Kudamm, Zoo, Europazentrum, an ein 40-maliges
Umlaufen des Brandenburger Tores war wegen der 3-reihig wartenden
250 m langen Touristenschlange nicht zu denken. Was wollen die denn,
war zu hören. Bekloppt! Verrückt. Sich interessant machen und vieles
andere mehr. Nach intimer Nudelparty im kleinsten Kreise zurück zu
unserem Quartier bei der BSG Rotation in Ostbrol.
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Sonntag, den 18. März 1990
(110km). Start von Alfons gemeinsam mit einem Ostberliner
Langstreckler, der uns bis Löwenberg begleitete. Es war der Tag der
Wahlen und viele, die uns vielleicht lieber begleitet hätten, gingen
mit ihren ganzen Familien zu den Wahllokalen, denn ehrlich gesagt,
wenn es um das Wohl und Wehe einer Nation ging, mussten wir, und das
akzeptierten wir, hinten anstehen (es ist auch schön allein in der
Frühlingssonne, nur von Faltern begleitet — natürlich auch von Gerd
— seine km abzuspulen). Zum Abend zu, ab Fürstenberg, tauchten mehr
und mehr Sportler auf, teils aus Neustrelitz aber auch schon Läufer
von der BSG Turbine Neubrandenburg. Je näher wir unserem heutigen
Etappenziel kamen, desto dichter wurde die Gruppe der Begleitung.
Auf den letzten Kilometern waren Jugendliche und Schüler dabei, als
wir mit Blumen empfangen in Neustrelitz einliefen. An meinem
Schreibtisch steht in Augenhöhe Erinnerung an das Neustrelitz
Mäuschen. Den Tag beschlossen wir mit Abendessen in der Orangerie
und der Theaterklause und anschließend in unterschiedlichen
Quartieren mit großer Diskussion um den Wahlausgang.
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Montag, 19. März 1990 (113 km).
Alles in der Hand von Jörg Knospe. Nach verspätetem Start
meinerseits (Grund: Letztmaliges Spritzen der Sehne) erreichte ich
Alfons kurz vor Usadel. Ich lief 12 km und danach mit Alfons
gemeinsam durch Neubrandenburg. Es war ein toller Empfang. Mutter
Kluge und Einheimische in ihren Trachten mit Musik erwarteten uns
mit Schmalzgebäck zu einer kurzen Verschnaufpause. Fotos, Interviews
und Kurzgespräche mit Vertretern der Stadt. Die Freudentränen bei
den anderen hatten tiefere Gründe bei mir. Es zeigte sich ab, dass
auf den letzten km der übliche Wechselrhythmus nicht mehr
durchführbar war. Nun kam die große Stunde von Gerd, der
etappenweise für mich einspringen musste und welche große
Ãœberraschung, Rolf Weinbrenner, der zu einem Besuch bei seiner
Schwester in der DDR war, stieß zu uns. Die letzten km bis Milzow
spulte Alfons in gewohnter Manier ab, begleitet während der
Dunkelheit von Rolf.
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Dienstag,
den 20. März 1990 (81km). Unsere letzte und kürzeste Etappe begann
pünktlich wie alle anderen. Dass wir uns der Küste näherten, zeigten
schnurgerade Straßen in vollkommener Ebene, wenn es nicht so dunstig
gewesen wäre, hätten wir die Türme von Stralsund schon am Horizont
erkennen können. Mein Fuß passte mittlerweile in keinen Schuh mehr,
so dass ich mich vorerst auf Begleitung und Fotografieren
beschränken musste. Stralsund ist die letzte Stadt vor dem
Rügendamm. Alfons wurde beinahe von einem Busfahrer übersehen, aber
er lief ohne Komplikationen weiter in Richtung Bergen. Gerd war
wieder an der Reihe, zusammen mit einem Rügener „Pärchen" lief er
meine Kilometer, danach wieder Alfons in Begleitung von Rolf. Dank
der Organisation von Helga Cornelius gesellten sich immer mehr
Sportler zu uns, um uns auf den letzten Kilometern bis zum Kap
Arkona zu begleiten. Kinder liefen mit uns mit strahlenden Augen.
Sie hatten extra schulfrei. In den Felsen von Kap Arkona war ein
großes Zieltransparent für uns befestigt. Unter dem Beifall vieler
Sportler wurden uns von der charmanten Bürgermeisterin von Putgarten
Blumen und Urkunden, unterzeichnet vom Rat des Kreises, überreicht.
Es war ein wunderbarer Abschluss und ich glaube, auch im Namen des
Teams sagen zu können, wir sind glücklich auf diese außergewöhnliche
Art und Weise Land und Leute kennen gelernt und Freundschaften
geschlossen zu haben. Am Ziel auf Rügen bereitete Störtebecker einen
ehrenvollen Empfang. |