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Verletzungen im Schulsport |
Fünf Prozent aller Schüler
verletzen sich jedes Jahr beim Schulsport. Dadurch wird eines der Hauptziele des
Sportunterrichts, die Kinder zu lebenslangem Sporttreiben zu motivieren, in
Frage gestellt. Der Orthopäde, Chirurg und Diplom-Sportlehrer Dr. med. Jens Kelm,
wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universitätsklinik Homburg/Saar, zieht durch
die Analyse von Schulsportunfällen Schlüsse zur Vorbeugung von Verletzungen im
Sportunterricht.
„Bei der überwiegenden Zahl der
Schulsportunfälle kommt es zu Bagatellverletzungen. Betroffen sind häufig Kinder
in der Pubeszens“, so der Homburger Arzt. Dafür verantwortlich könnten
einerseits hormonelle Änderungen sein, die zur psychischen Instabilität führen.
Andererseits könnten ausgeprägte konstitutionelle Proportionsverschiebungen
gestörte motorische Handlungsabläufe, Selbstüberschätzung und
Konzentrationsmangel mit sich bringen. Den hohen Anteil der Ballsportunfälle
führt Kelm darauf zurück, dass von den Individualsportarten große
Unterrichtsanteile auf die Mannschaftsspiele verlagert wurden und zudem die
Komplexität der Spielabläufe an sich ein erhöhtes Unfall- und Verletzungsrisiko
darstellt. Außerdem würde das Unfallgeschehen in den klassischen
Individualsportarten des Schulsports wie Gerätturnen und Leichtathletik über-,
die Ballsportarten dagegen unterschätzt.
„Bei den Schülerinnen waren
neben der Ballannahme und speziellen Geräteturnübungen vor allem Balltechniken
wie Pritschen, Prellen und Schießen die vorrangig unfallbelasteten Situationen“,
sagt Dr. Kelm. Dies erklärt er mit sozialisationsbedingten Defiziten der Mädchen
im Umgang mit Bällen. Bei den Schülern zeigte sich dagegen, dass motorische
Fehlhandlungen und äußere Gewalteinwirkungen wie mangelnde Übersicht,
Konzentrationsschwächen und dadurch auch unkontrolliertes und mit negativ
belastetes Spiel einschließlich Foulspiel Unfallsituationen provozierten.Da sich
die Mehrzahl der Unfälle in komplexen Spielsituationen ereignete, müsse
sichergestellt sein, dass die sportlichen Handlung gekonnt ist, bevor die
Anwendung im Wettkampfspiel erfolgt. Zudem sollten schulsportadäquate
Regelanpassungen sowie methodisch organisatorische Maßnahmen zur besseren
Überschaubarkeit von Sielsituationen und soziales Handeln stärker in der
Unterrichtsplanung berücksichtigt werden.
Interview
Robert Zaske (61) ist Diplom-Sportlehrer und seit neun Jahren Schulleiter der
Grundschule Sennenfeld in Homburg. Dort unterrichtet er 14 Stunden Sport in der
Woche. Wie sieht er die Verletzungsgefahr von Schülern im Sportunterricht als
Pädagoge?
Herr Zaske, wie viel Sportunterricht haben die Kinder an Ihrer Grundschule
und wie häufig kommt es dabei zu Verletzungen?
Die 370 Kinder an unserer
Schule haben in der Regel zwei Stunden Sport in der Woche. Dabei kommt es
durchschnittlich etwa einmal im Monat zu einer Verletzung. Meistens haben sich
die Kinder bei Lauf- oder Ballspielen gestoßen und sich dabei Prellungen oder
Schürfwunden zugezogen.
Was sind in Ihren Augen die Ursachen für Schulsportunfälle?
Bei schwereren Verletzungen wie
zum Beispiel Knochenbrüchen liegt es oft daran, dass eine Hilfestellung nicht
funktioniert hat oder eine Matte nicht oder falsch ausgelegt wurde. Die häufigen
Bagatellverletzungen sind eher durch das schlecht ausgeprägte
Orientierungsvermögen der Kinder zu erklären. Sie bringen zu wenig
Bewegungserfahrung mit und ihre Koordination ist nur unzureichend geschult. Hier
kommen zum Beispiel Kinder auf die Schule, die nicht rückwärts laufen können.
Die Koordinationsschulung sollte schon im Kindergarten stattfinden – und zwar
durch qualifiziertes Personal.
Wie versuchen Sie als Lehrer, das Risiko für Schulsportunfälle zu
minimieren?
Es ist schon erschreckend, dass
Kinder täglich über zwei Stunden vor dem Fernseher sitzen. Kein Wunder, dass sie
dann immer unfit ter werden. Dies muss ich bei meiner Unterrichtsplanung
bedenken und die Unterrichtsinhalte entsprechend abstimmen. Für Geräteturnen
bringen die Kinder zum Beispiel überhaupt nicht die Voraussetzungen mit. Deshalb
muss man zunächst die Stützkraf trainieren. Wenn die Kinder fallen, können sie
sich mangels Reflexe und Kraft in den Armen oft gar nicht abfangen. Hier muss
also zunächst ein Grundgerüst in Sachen Kraft, Fitness und Ausdauer aufgebaut
werden.
Welche Tipps geben Sie jüngeren Kollegen, um Verletzungen im
Sportunterricht zu verhindern?
Ein Grundschullehrer muss heute
Allrounder sein und auch Fächer unterrichten, in denen er überhaupt nicht
ausgebildet wurde. Gerade im Sport wäre eine spezielle Ausbildung aber dringend
erforderlich. Ein Sportlehrer muss zunächst darauf achten, dass die Kinder
vernünftige Sportbekleidung tragen. Er muss sich schon im Vorfeld Gedanken über
die Unterrichtsorganisation machen, über Methodik, Sicherheitsvorkehrungen,
Hilfsmittel etc. Außerdem rate ich allen Kollegen, regelmäßig an Fortbildungen
teilzunehmen, zum Beispiel an denen der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Gemeindeunfallversicherungsverbände.
Was sind in Ihren Augen die effektivsten Maßnahmen, um Verletzungen im
Schulsport zu verhindern?
Für die Kinder wäre es
wesentlich besser, wenn sie täglich eine Stunde Sportunterricht hätten. Außerdem
sollte Bewegung grundsätzlich Unterrichtsprinzip sein. Dies müsste seitens des
Ministeriums an die Schulen herangetragen werden. Es ist einfach unsinnig, dass
ein Kind den ganzen Morgen ruhig auf seinem Platz sitzen soll. Wenn es die Füße
auf den Stuhl legt, darf man das nicht als Disziplinlosigkeit verstehen, sondern
als Bedürfnis nach Bewegung. Ich habe einmal bei einem Schüler bemerkt, dass
sein Akku leer war. Daraufhin habe ich ihn losgeschickt, um eine Runde um die
Schule zu laufen. Der kam dann etwas außer Puste zurück und sagte: „Ah, jetzt
geht’s wieder besser!“
Überblick: Verletzungen beim Schulsport
Eine Analyse von 213
Schulsportunfällen mit 234 Verletzungen brachte folgende Ergebnisse: Drei
Viertel aller Unfälle ereigneten sich in der Sekundarstufe 1, die am häufigsten
betroffene Altersgruppe waren die 11- bis 15-Jährigen. Es verletzten sich
insgesamt mehr Jungen als Mädchen (Geschlechtsverteilung: 55%:45%). Vier Prozent
der Schüler mussten stationär in der Klinik behandelt werden, sieben Kinder
wurden operiert.
Verletzungsträchtige Ballsportarten
Bei den so genannten Großen
Spielen ereigneten sich 63% aller Schulunfälle, die meisten davon traten mit 21%
beim Fußball und mit 20% beim Basketball auf. An dritter Stelle stand mit 16,5%
das Gerätturnen. Beim Fußball verletzten sich mit 36% auffallend häufig Schüler,
die auch im Verein Fußball spielten.
Meistens betroffen: Hände und Finger
Bei 55 % der Unfälle im
Sportunterricht waren die oberen Extremitäten betroffen, meistens (41%) die
Hände und Finger. An den unteren Extremitäten (37%) kam es mit 20% vorwiegend zu
Verletzungen der Sprunggelenke. Kopf- und Rumpfverletzungen traten seltener auf.
Distorsionen und Kontusionen
Bezüglich der Verletzungsformen
zeigte sich ein signifikanter geschlechtsspezifischer Unterschied: Bei den
Mädchen kam es mit 37% hauptsächlich zu Distorsionen, bei den Jungen dominierten
mit 28% Kontusionen. Auf dem dritten Platz der Verletzungen, die bei Schülern
und Schülerinnen etwa gleich häufig auftraten, lagen mit 10% die Frakturen.
Während es bei Mädchen eher zu knöchernen Kapselausrissen – meist an den Fingern
– kam, waren Jungen öfters von Bandrupturen – überwiegend am Sprunggelenk –
betroffen.
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Autor und Copyright: Dr. Wolfgang Schillings / Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS)
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