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Karlheinz Kellert: Mein(e) Comrades Marathon 2000
 
 
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15.12.2001  

 
 

„Tell the world, what a wonderful race we have!“
(Berichte der Welt über unser wundervolles Rennen!)
Abschiedsauftrag unseres Gastgebers, Warren Lloyd, Roseland Guest House, Durban.


Prolog im Himmel: Der Pakt von Bad Arolsen
 

Unsere Reise zum Comrades wurde beim Advent-Wald-Mararthon am 1. Advent 1999 in Bad Arolsen geboren. Auf einem Glühweinstand des Weihnachtsmarktes versuchte Josef mich nach dem dritten oder vierten Glühwein mal wieder für den 24-Stunden-Lauf in Wörschach zu gewinnen, dem ich mich bislang erfolgreich verweigert habe. Es mag dem Glühwein zuzurechnen zu sein, dass ich dem Werben mit dem Vorschlag begegnete, in Wörschach zu starten, wenn er mit mir vorher den 75. Comrades im Juni 2000 bestreiten würde, der seit einem Bericht von Uwe Ellger in Spiridon 08/1998 mein sportliches Traum-ziel war. So begann der erste Teil unseres Abenteuers, der zweite Teil folgt im Juli in Wörschach, Steiermark.


Unsere Gruppe
 
Endlich sind wir in Durban angekommen. Veranstalter unserer Reisegruppe sind Rosi und Uwe Ellger von AustrAsia Tours. Uwe ist ein großer Comrades-Fan, der bereits zwei Rennen erfolgreich absolviert hat. Er startet auch in diesem Jahr und strebt wie im Vorjahr mit einer Zeit unter 7.30 eine Silbermedaille an. Unsere Gruppe setzt sich aus 20 Läufern-Innen und 6 Begleiterinnen zusammen. Das Leistungs- und Erfolgsspektrum der Läufer-Innen wird von den Marpingern Tanja Schäfer und Rainer Müller angeführt, die beide in den letzten Jahren die Deutschte Meisterschaft über 100 km abonniert haben und mit ihren hervorragenden Zeiten auch in Südafrika Aufsehen erregen.
 
Eine weitere bekannte Persönlichkeit ist Manfred Steffny, ehemals deutscher Spitzen-Marathonläufer und Herausgeber der Lauf-Fachzeitschrift „Spiridon“. Manfred erinnert sich noch an einen Besuch 1990 bei meiner guten alten Freundin Antje in New York, wo er sich ein Fahrrad ausgeliehen hat, um verbotenerweise seinen Bruder Herbert beim New York Marathon vom Rad aus zu coachen. (Antje lebt heute mit Richard in Darwin, Australien.) Manfred möchte seinen ersten echten Ultralauf mit einer Zeit unter 7.30 Stunden bestehen, um eine Silbermedaille mitzunehmen.
 
Der Rest der Gruppe setzt sich aus erfahrenen UltraläufernInnen zusammen, denen Läufe wie Rennsteig, Biel, Swiss Alpin, Jungfrau-Marathon etc. aus eigener Erfahrung vertraut sind. Interessanterweise dominiert in der Altersverteilung eindeutig die Master-Klasse (50-59 Jahre).


Unsere Guest Houses
 
Unserer Gruppe ist in den beiden Gästehäusern „Chelsea Villa“ und „Roseland House“ im Villenviertel von Durban untergebracht. Die Häuser sind stilvoll und sehr komfortabel eingerichtet. Sofort entwickelt sich ein freundschaftliches Verhältnis zu den Gastgebern. Warren Lloyd vom Roseland House ist ein erfahrener und erfolgreicher Comrades-Läufer, der mit einer Bestzeit unter 7.30 Stunden eine Silbermedaille aufweisen kann. In diesem Jahr wird seine Frau Delia teilnehmen . Warren konzentriert sich zusammen mit Neville vom Guest House „Chelsea Villa“ auf die Betreuung der Gastläufer und Begleiterinnen. Die Gastfreundschaft, die wir in unseren Gästehäusern und auch sonst überall in Südafrika erfahren haben, ist beeindruckend.


Die Streckenbesichtigung
 
Zwei Tage vor dem „Race Day“ wird den internationalen Läufern per Autobus eine Streckenbesichtigung unter äußerst fachkundiger Führung angeboten. Alison West, Chairman der Comrades Marathon Association, hat es sich nicht nehmen lassen, die internationalen Teilnehmer persönlich zu begrüßen. Alison West treffen wir spätestens am Ende des Rennens wieder, denn es ist Aufgabe des Chairmann, das Rennen nach Ablauf der Zeit mit dem Rücken zu den einlaufenden Runnern abzuschließen. Der Ehemann von Alison West, selbst vielfacher Teilnehmer, begleitet unsere Besichtigung mit seinen fachkundigen Kommentaren, ins Deutsche übersetzt von Peter Löffler, ein nach Kapstadt ausgewanderter Deutscher und inzwischen zehnfacher Comrades-Teilnehmer.
 
Unsere Gruppe nimmt geschlossen an der Streckenbesichtigung teil. Trotz oder vielleicht auch wegen aller Erfahrungen erzeugen die Eindrücke und Informationen der Strecken-besichtigung einen großen Respekt und lösen bei einigen ein Überdenken oder gar eine Korrektur der persönlichen Ziele aus.
 
Mir bereitet die Strecke keine Angst. Ich habe mich über ein halbes Jahr gut vorbereitet und meine fehlende Grundschnelligkeit mit fast 3.000 Laufkilometern und 2.500 Radkilometern kompensiert. Aus dem Training heraus bin ich 4 Marathons gelaufen (zwischen 3.42 und 3.52) und habe im Mai an vier aufeinanderfolgenden Wochenenden Einheiten von 50 km bis über 60 km recht problemlos bewältigt. Der letzte Test am 1.6.2000 war ein profilierter Lauf über 63 km „Rund um Aachen“, hervorragend organisiert vom DLC Aachen, bei dem ich gegen Ende immer stärker wurde. Jetzt fühlte ich mich reif für eine Zeit unter 9 Stunden.
 
Im Zielbereich angekommen, sind wir im Zelt, das für die „Internationales“ reserviert ist und auch nach dem Rennen unser Treffpunkt sein wird, zu Kaffee und Kuchen von Porzellangeschirr (!) geladen. Anschließend besteht noch Gelegenheit zum Besuch des Comrades-Hauses, in dem die für einen Lauf sehr lange Geschichte des Comrades-Marathon in vielen Dokumenten und Erinnerungsstücken präsent ist. Bei dieser Gelegen-heit statten sich Josef und ich mit einem Glasperlenkettchen aus, das bis zum Ende unserer Reise unser Talisman werden sollte, schließlich braucht man neben Trainingsfleiß auch etwas Glück.


Pasta Party
 
Rosi und Uwe haben für unsere Gruppe einen Tisch in dem italienischen Restaurant „Villa d´Este“ in unserem Wohnviertel reserviert. Nach diversen Antipisti entscheiden sich die meisten Läufer als Hauptgang für ein Nudelgericht, während sich die nicht laufenden Begleiterinnen auf die Fleischgerichte konzentrieren. Als Getränk dominiert eindeutig Bier, lediglich unsere Spitzenläufer beschränken sich auf nicht-alkoholische Getränke. Der Rest der Gruppe scheut auch nicht vor einem Glas des ausgezeichneten südafrikanischen Weines zurück. Schließlich werden dem Wein viele positive Effekte nachgesagt und außerdem wollen wir ja gut hydriert an den Start gehen.


Am Wettkampfmorgen
 
Um 3.00 beendet der Wecker nach einer kurzen und unruhigen Nacht den Schlaf. Bekleidung und Ausrüstung liegen schon bereit. Um 3.30 Uhr gibt es ein leichtes Frühstück in unserem Guest House. Um 4.00 Uhr verabschiedet uns Warren, unser Gastgeber, mit den besten Wünschen. Im Zielraum wird er uns erwarten. Wir werden von einem Taxi abgeholt und fahren mit dem Rest der Gruppe und Neville zum Startraum. Das letzte Stück ist für den Verkehr gesperrt und muß unter der Führung von Neville zu Fuß zurückgelegt werden. Nach einer letzten Einweisung durch Uwe Ellger bewegt sich jeder in Richtung des zugewiesenen Startsektors. Die Eliteläufer starten in Sektor A, für mich ist es der Sektor C, Josef geht in Sektor B. Wir verabschieden uns mit den Wünschen für einen guten Lauf.


Der Start
 
Es ist Nacht, aber die Straßen sind hell beleuchtet und für die Fernsehkameras durch zusätzliche Lichtmasten ausgeleuchtet. In meinem Sektor ist es bereits sehr voll, so dass ich ganz hinten an der Grenze zum Sektor D stehe, was beim Start noch einmal zusätzlich Zeit kosten wird. Die Stimmung wird durch Musik und Ansagen angeheizt. In den letzten Minuten vor dem Start werden die Sektorsperren aufgehoben, und das Läuferfeld bewegt sich weiter in Richtung Ziellinie. Nach den Vorinformation wird der Start traditionell durch einen Hahnenschrei eingeläutet, auf den dann der eigentliche Startschuß erfolgt, der gleichzeitig aus einer Pistole und aus einer Kanone abgegeben werden soll. Zusätzlich soll eine Leuchtrakete aufsteigen.
 
Erwartungsgemäß ertönt über die Lautsprecher der Hahnenschrei, aber auf das Startsignal warte ich vergeblich. Statt dessen setzt laute Rockmusik mit dem Titel „Get Ready“ ein. In das Feld kommt jetzt Bewegung. Ich muß den Startschuß überhört haben und beschließe, meine Uhr erst zu drücken, wenn ich über die Startlinie gehe. Ich erinnere mich an den Start in New York, dort sind wir auch mit Musik gestartet (Vivaldis „Vier Jahreszeiten“), und der Böller aus der Startkanone war nicht zu überhören.
 
Nach geschätzten 2 Minuten habe ich die Startlinie erreicht, drücke meine Uhr und muß aufgrund des dichten Läuferfeldes vorerst noch ein Stück gehen. Da es keine Netto-Zeitmessung gibt, belastet der Start das Zeitkonto, aber ich denke auch an den Vorteil, dass ich nicht Gefahr laufe, zu schnell zu beginnen. Der Rennverlauf entscheidet sich ohnehin erst auf den letzten 20-30 km.
 
Da die Temperatur beim Start ca. bei 20 Grad liegt, haben sich die meisten Läufer unnötigerweise mit zusätzlichen T-Shirts und z.T. auch Plastiksäcken ausgestattet, die sie nun loswerden müssen. Für die T-Shirts gibt es dankbare Abnehmer am Straßenrand. Langsam kommen wir auch in einen Lauftrab. Wir bewegen uns auf einer Schnellstraße stadtauswärts und verabschieden uns in die Dunkelheit der Nacht. Bis zur Dämmerung wird es noch etwa 1 Stunde dauern.
 
Unsere Begleiterinnen werden sich die Fernsehübertragung des Starts in den Guest Houses anschauen, anschließend frühstücken und dann unter Leitung von Neville und seinem Sohn an die Strecke fahren. Der erste Haltepunkt soll ca. bei km 30 sein. Die Gruppe will mit einer Deutschlandfahne auf sich aufmerksam machen.


Die erste Rennhälfte
 
An der Grenze des Ortskerns beginnen die ersten leichten Steigungen. Überall stehen Menschen, die uns applaudieren und aufmunternde Appelle zurufen. Die Tempogestaltung ist auf den ersten Kilometern nur nach Gefühl möglich, weil keine Marken zu erkennen sind. Als ich die erste Kilometermarke sehe, zeigt sie 78 km an (die Strecke wird abwärts gezählt!), wir sind also schon gut 9 km unterwegs. Ich beschließe, wegen der profilierten Strecke die Zwischenzeitmessung auf 5km-Splits zu beschränken und damit bei 75 km zu beginnen. Bei 77 km schaue ich auf die Uhr und sehe, dass ich ab der Startlinie für die ersten 10,3 km 1.03 Stunden gebraucht habe. Demnach dürfte ich mich jetzt in einem Tempo von 6 Min/km befinden und befinde das für o.k. Bei 70 km erhalte ich mit fast genau 30 Minuten die Bestätigung.
 
Ich überhole viele LäuferInnen, die aufgrund ihrer Startnummer eigentlich in Sektoren hinter mir starten mußten, aber es geschafft haben, sich irgendwie nach vorne zu mogeln. Das ist zwar nicht fair, weil sie sich einen Vorteil verschaffen, aber die Versuchung ist natürlich aufgrund der Brutto-Zeitmessung groß und auch verständlich.
 
Mein Form- und Körpergefühl ist indifferent. Das Laufen fällt mir weder leicht noch schwer. Meine Schwachstellen Knie, Hüfte, Achillessehne sind unauffällig. Inzwischen wird es auch hell, und es geht in den Anstieg zu Cowie´s Hill, dem ersten der „Big Five“. Ich kontrolliere die Belastung über eine betont ruhige Atmung und komme trotzdem offensichtlich gut voran, denn ich laufe an vielen anderen vorbei.
 
Nach Cowie´s Hill verlieren wir bis zur Ortschaft Pinetown fast wieder 100m Höhe. In Pinetown sind früh morgens bereits viele Menschen auf den Beinen, die nicht nur dem Rennen zuschauen, sondern auch die Läufer unterstützen und aufmuntern. Bald nach Pinetown beginnt der lange und scheinbar nicht endende Anstieg nach Field´s Hill, dem zweiten der „Big Five“. An der Strecke campieren und picknicken viele Gruppen, die z.T. schon am Vorabend angereist sind und jetzt die Läuferkarawane an sich vorbeiziehen lassen. Ich stelle mir vor, daß die Atmosphäre bei der Tour der France ähnlich sein muß.
 
Die internationalen Läufer sind an der Startnummer zu erkennen. Ich werde auf der Strecke oft angesprochen, man klopft mir auf die Schulter und wünscht mir „enjoy the race“.
 
Nach etwa 3 Stunden Laufzeit konzentriere ich mich stärker auf die Zuschauer am Straßenrand und halte Ausschau nach einer Deutschlandfahne. In der Tat sehe ich bald auf der linken Straßenseite die deutschen Farben. Ich laufe hinüber und erkenne unsere Begleiterinnen. Ich bin unter meiner Mütze nicht so leicht auszumachen und rufe ihnen zu. Sie winken und rufen erfreut zurück.
 
Der Anstieg nach Botha´s Hill, dem dritten der „Big Five“ ist kürzer aber giftig. Der nachfolgende Abschnitt bis zur „Half-Way-Marke“ bei Drummond ist ein ziemlich anspruchsvoller Wechsel von An- und Abstiegen. Viele Läufer müssen bereits gehen. Ich habe bisher keinerlei Probleme. Meine 5km-Splits haben sich inzwischen bei ca. 29 Minuten eingependelt, womit ich zufrieden bin. Damit müßte ich zur Hälfte etwa bei 4.20 Stunden landen. Da die zweite Hälfte leichter ist, kann sie unter optimalen Bedingungen schneller als die erste Hälfte gelaufen werden. Das Ziel, eine Zeit unter 9 Stunden zu erreichen, um die ersehnte Bronzemedaille mit Silberrand zu erhalten, wird langsam real.
 
Tatsächlich zeigt meine Uhr bei der Half-Way-Marke in Drummond 4.17 Stunden. Da ich ja erst auf der Startlinie abgedrückt habe, dürfte ich ziemlich genau auf 4.20 Stunden liegen. Ich habe alles unter Kontrolle und gehe optimistisch in die zweite Hälfte. Allerdings ver-misse ich das „Runner´s High“, das oft bei Ultraläufen über die Strecke hilft. Wahrscheinlich ist der Kurs zu unrhythmisch, um einen meditativen Gleichgewichts-Zustand zu erreichen.


Die zweite Rennhälfte
 
Nach der Halbzeit bei Drummond liegt vor uns liegt der lange Anstieg zum gefürchteten Inchanga, dem vierten der „Big Five“. Die Strecke ist gut einzusehen und ich blicke auf die lange Steigung, auf der sich vor mir die Läuferkarawane inzwischen relativ langsam bewegt. Die meisten Läufer gehen oder wechseln zwischen Gehen und Trab. Ich habe mit der Steigung kein Problem und komme gut voran. Die Unterstützung durch das Publikum ist phantastisch, vergleichbar nur mit den legendären Alpenetappen der Tour de France.
 
In der Tat fällt mir die zweite Steckenhälfte bisher leichter. Ich laufe locker, keine Anzeichen von Ermüdung oder Beschwerden. Ohne den Druck zu erhöhen, liegen meine 5km – Splits nun bei 27.30 Minuten, d.h. ich laufe einen Schnitt von 5.30 Min/km. Wenn ich das durch-halte, ist eine Endzeit von unter 8.30 Stunden wahrscheinlich. Ich bemerke eine gewisse Euphorie, versuche aber, nicht schneller zu werden. Wenn ich alles richtig gemacht habe, will ich erst auf den letzten 15 km forcieren; vielleicht ist dann sogar eine Zeit unter 8.20 Stunden möglich. Wir laufen jetzt auf dem einzigen flacheren Abschnitt von etwa 5-6 km, auf dem es relativ ruhig zugeht.


Comrade Josef
 
Wie mag es jetzt meinem Laufkamaraden Josef gehen? Er ist nicht sehr optimistisch gestartet. In der Vorbereitung haben sich immer wieder Beschwerden eingestellt, die das Training gestört haben. Sorgen bereiten ihm besonders die diagnostisch diffusen Knie- und Fußschmerzen. Zudem ist Josef eher ein Bergab-Läufer, während ich mich als Bergauf-Läufern einordne.


Das lange Finish: Runner´s Purgatorium
 
Die Sonne steht inzwischen ziemlich hoch. Da es kaum Schatten gibt, nimmt auch die Wärme schnell zu, die zudem auch noch von dem Asphalt reflektiert wird. Ich verspüre Durstgefühl. Das ist nicht gut! Ich muß auf dem letzten Drittel mit den gefürchteten Pro-blemen der Dehydrierung rechnen, die vor allem durch die Blutverdickung hervorgerufen werden: Die Leistungsfähigkeit sinkt dann drastisch ab. Im fortgeschrittenen Stadium treten fiebrige Zustände mit Koordinations- und Wahrnehmungsstörungen auf. Im schlimmsten Fall kommt es zum Kollaps oder sogar zum Koma. Ich bin froh, prophylaktisch ein Aspirin genommen zu haben, um die Fließfähigkeit des Blutes zu verbessern.
 
Das Durstgefühl nimmt zu. Die Verpflegungsstellen werden mir jetzt immer wichtiger. Ich trinke so viel wie möglich und wechsle zwischen Wasser, Powerade, Cola und nehme hin und wieder ein Stück Banane. Bei jeder Gelegenheit tauche ich meine Mütze ins Wasser und befeuchte auch meinen Oberkörper, um mich zu kühlen. Die Benutzung von Duschen und Sprühanlagen meide ich, weil feuchte Socken sehr leicht zu äußerst schmerzhaften Blasen an den Füßen führen können. Bei 30 km (nach 57 Laufkilometern) gestatte ich mir erstmals, im Verpflegungs-bereich zu gehen, um mich ausgiebig zu erfrischen und zu versorgen. Aber es hilft nicht viel, die Krise ist bereits da.
 
Aufgrund der Erfahrungen vom Rennsteig und von Biel trifft mich die Krise nicht unerwartet. Dort hatte ich im Abschnitt zwischen 55 - 65 km ebenfalls schwere Krisen, die ich aber überwinden konnte. Ich bleibe optimistisch und suggeriere mir, dass es nach 65 km wieder besser gehen wird. Mein Tempo wird auch nur unwesentlich langsamer, die Splits liegen jetzt im Bereich von 28 Minuten. Ich laufe an einem International vorbei, dem es scheinbar noch schlechter geht als mir. Er trägt ein grünes Hemd mit dem Aufdruck „TV Beckerwerth“, ein Ortsteil meiner Geburtsstadt Duisburg. Da ich und wahrscheinlich auch der Becker-werther genug mit sich selbst zu tun haben, lauf ich wortlos vorbei.
 
Nach 70 km wird mir klar, dass ich jetzt mit keiner Reinkarnation rechnen darf. Meine Zeit ist aber immer noch gut und ein Einlauf unter 9 Stunden bleibt realistisch. Allerdings werden meine Gehabschnitte immer häufiger und länger. Auch bergab fällt mir das Laufen sehr schwer. Ich habe keine muskulären oder sonstigen orthopädischen Probleme, aber mein Puls rast im Maximalbereich. Offensichtlich bin ich dehydriert. Den unspektakulären höchsten Punkt mit 810 m, Umlaas Road, haben wir inzwischen passiert. An Angriff ist nicht mehr zu denken. Nun geht es nur noch darum, die letzten 15 km zu überstehen, und noch liegt der „Killer“ Polly Shortts, der letzte der „Big Five“, vor mir. Meinen Zustand kann ich zumindest nicht mit den Verpflegungsstellen begründen. Die Verpflegung auf der Strecke ist absolut das Beste, was ich jemals erleben durfte.
 
Am Anstieg zu Polly Shortts, der von Tausenden von Zuschauern gesäumt wird, stehen mir für die letzten 10 km noch ca. 1.30 Stunden zu Verfügung, um eine Zeit unter 9 Stunden zu erreichen. Ich bin beruhigt und „walke“ die Steigung, wobei ich auch nur unwesentlich langsamer bin als die wenigen Nicht-Wanderer. Am Gipfelpunkt bin ich erleichtert, für etwa 7 km habe ich noch 70 Minuten, und es geht ja immerhin überwiegend bergab.
 
Inzwischen verhindert aber mein Herzrasen, dass ich bergab noch laufen kann, also muß ich nun auch bergab gehen. Das war im Zeitkonto nicht geplant. Nun könnte es doch noch eng werden, zumal wir jetzt 28 Grad im Schatten haben, wobei es so gut wie keinen Schatten gibt.
 
Die Bergabpassage erweist sich als sehr wellig. Kein flaches Stück, auf dem ich noch traben könnte, statt dessen geht es im Wechsel rauf oder runter. Die Zuschauer rufen mir ständig zu „Don´t go!“, aber sie wissen nicht, was in meinem Körper vorgeht, der sich gegen jedes weitere Laufen schmerzhaft wehrt. So stelle ich mir Runner´s Purgatorium vor. Die letzten Kilometer werden immer irrealer. Falle ich vielleicht in ein schwarzes Loch, in dem die bekannten Raum-Zeit-Gesetze aufgehoben sind? Meine Bewegungen beginnen unko-ordiniert zu werden. Offensichtlich verliere ich die Kontrolle über meinen Körper. Ich denke nun auch an die Möglichkeit, zu kollabieren oder in ein Koma zu fallen. Das darf auf keinen Fall passieren, denn dann habe ich alles verloren. Noch funktioniert zumindest meine Wahrnehmung, aber es sind noch immer 3 km bis zum Ziel. Ich höre bereits aus der Ferne die Lautsprecher und die Zuschauer im Stadion, aber 3 km erscheinen mir jetzt eher wie drei Lichtjahre.
 
Von hinten greift mir ein helfender Arm unter meinen linken Arm. Es ist ein Comrade oder hat der Himmel vielleicht einen Engel geschickt? Jedenfalls redet er beruhigend auf mich ein: „Just walk! We will do it!“ Ich vertraue ihm und fühle mich gerettet. Kurz darauf ein weiterer hilfreicher Arm auf der rechten Seite, noch ein Comrade bzw. Engel. Ich lege meine Arme um ihre Schultern und zusammen gehen wir dem Zielraum entgegen.


Das Ziel
 
Das Ziel liegt im Stadion einer Pferderennbahn. In das Stadion eingebogen, haben wir noch mehrere 100 Meter zu gehen, die mir endlos erscheinen. Als uns das Publikum ankommen sieht, beginnt ein Höllenlärm. Alle trommeln mit den Händen auf die Reklametafeln der Absperrung und schreien uns unverständliche Worte zu. Ich weiß, dass wir gemeint sind und für den Moment zu Heroes werden, denn das möchte man hier sehen: Comrades mit letztem Einsatz!
 
Unmittelbar vor dem Zielkanal rufen meine Comrades bereits nach medizinischer Hilfe. Mein Blick auf die Uhr zeigt 8.44, ich kann trotz aller Leiden innerlich noch jubeln. Dann sind wir durch. Mein einziger Wunsch besteht jetzt darin, mich hinzulegen, aber meine Comrades halten mich fest. Ich bekomme die erhoffte Bronzemedaille mit Silberrand umgehängt. Einer meiner Comrades sagt zu mir: „You have done it! Well done!“ Ich bin stolz, freue mich, würde ihnen gerne danken, bringe aber kein Wort hervor.
 
Da ist auch schon die Helfergruppe mit der Trage. Sie legen mich vorsichtig ab und tragen mich in das Zelt für die medizinische Versorgung. Meine Comrades klopfen mir noch einmal auf die Schulter und gehen dann in Richtung „Runner Exit“.


Nach dem Rennen
 
Das Zelt der medizinischen Versorgung ist sehr geräumig. Mindestens 50 Liegen sind vor-bereitet und z.T. auch belegt. Ich werde sofort von einer Ärztin empfangen. Nach kurzer Untersuchung und Befragung teilt sie meine Diagnose: „Dehydration“. Ich lasse mir von den Helferinnen insgesamt 10 Becher gekühlter Getränke bringen. Eine Helferin fächelt meinem Kopf mit einem Stück Pappe wohltuend Luft zu. Inzwischen werden pausenlos Läufer hereingetragen. Neben mit liegt jetzt ein Comrade, der sich im Koma befindet. Die Medi-ziner arbeiten hektisch an ihm, während ich eine entspannende Massage meiner harten Oberschenkelmuskulatur genieße. Nach einer halben Stunde haben sich mein fiebriger Zustand und mein Kreislauf soweit normalisiert, dass ich zum Treffpunkt begeben kann.
 
Den internationalen Läufern steht exklusiv ein eigenes Zelt direkt am Zieleinlauf zu, in dem mit großzügigem Service ein kalt-warmes Buffet incl. Kuchentheke bereitsteht und verschie-dene Getränke ausgegeben werden. Der Zugang wird an einer Pforte von einem breit-schultrigen Uniformierten kontrolliert.
 
Unsere Begleiterinnen sind bereits seit dem Mittag in dem Arreal und erwarten unseren Einlauf, für dessen unfreiwilligen Höhepunkt ich bisher gesorgt habe. Als sie mich sehen, breitet sich Erleichterung aus. Die bereits eingetroffen Finisher begrüßen sich freudig. Lothar aus Leipzig ist kurz vor mir im Zelt angekommen und hat eine Bronzemedaille erkämpft. Da sehe ich auch Josef triumphierend mit einer Silberrand-Medaille sitzen: 8.53 Stunden sind es geworden. Er ist hoch zufrieden, wir beglückwünschen uns gegenseitig. Josef überläßt mir seinen Stuhl und besorg mit eine Dose Bier. In der Runde sehe ich jetzt noch weitere Silberrand-Medaillenträger: Ralf aus Paderborn mit 8.19, Helmut aus Hanau mit 8.40 (er ist in den nächsten Tagen nur noch mit Medaille zu sehen), unser etwas enttäuschter Uwe Ellger mit 8.47, ein glücklicher Axel mit 8.51. Tiny aus Holland strahlt: Sie hat sich bei ihrem zweiten Start um eine halbe Stunde auf hervorragende 8.52 verbessert, ihr Mann ist noch auf der Strecke. Gerhard hat mit 6.40 eine Silbermedaille erlaufen. Ich frage nach den Ergebnissen unserer Marpinger SpitzenläuferInnen: Rainer Müller wurde 14. mit 5.49, Tanja Schäfer ist zusammen mit ihrem Freund und Trainer Foerg Hoos in 6.51 als 8. Frau eingelaufen. Manfred Steffny hat mit 7.55 seine Erwartungen deutlich verfehlt und sagt später, dass er sich diesen Lauf nicht wieder antun will. (Grete Weitz hat nach ihrem ersten Sieg in New York auch behauptet „I´ll never do it again!“, um dann noch sieben Siege nachzulegen.) Insgesamt haben wir ein hervorragendes Gruppenergebnis erzielt.
 
Ich verspüre wieder Durst und lasse mich mit gutem südafrikanischen Dosenbier ver-sorgen. Insgesamt 5 „Cans“ versickern, ohne dass ich die Wirkung von Alkohol verspüre. In der Zwischenzeit hat sich auch der Hunger gemeldet und ich schiebe mehrere Gänge mit gefülltem Pita-Brot und Kuchen ein.
 
Noch fehlen einige Teilnehmer unserer Gruppe. Unsere Begleiterinnen beobachten weiter den Zielbereich und kündigen jeden gesichteten Läufer unserer Gruppe freudig und erleichtert an. Gerhard, der am Wochende vorher noch am Gebrüder-Grimm-Etappenlauf teilgenommen hat kommt in 9.28. Rolf und Wolfgang sind die ganze Strecke zusammen gelaufen und erreichen gemeinsam mit 9.49 das Ziel. Das Eintreffen im Zelt wird jedesmal von großem Applaus und vielen Hallos begleitet. Zahlreiche helfende Hände kümmern sich um die gerade angekommenen Läufer.
 
Gegen Ende vermissen wir noch zwei Teilnehmer: Edda aus Bad Soden sowie Hinrich aus Wilhelmshaven. Edda wird schließlich mit 12.32 nach Zielschluß eintreffen, aber mit 58 Jahren und überstandener Brustkrebsbehandlung feiert auch sie ihren Erfolg. Hinrich kommt endlich nach 11.24 ins Ziel und wird von einem Weinkrampf erschüttert. Er ist an der Strecke auf eine Frau mit Atemstillstand getroffen. Alarmiert durch die Rufe „Help the lady!“ leitet Hinrich, der als Feuerwehrmann über einschlägige Kenntnisse verfügt, mit Herz-massage und Mund-Zu-Mund-Beatmung bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes die Reanimationsmaßnahmen ein und rettet der Frau damit wahrscheinlich das Leben. Das erschütternde Erlebnis mit der Ungewissheit über das Schicksal der Frau läßt zusammen mit den Anstrengungen des Laufes Hinrich selbst fast zusammenbrechen. Mehrmals wiederholt er das Urteil von seinem „schlimmsten Lauf“. (Am nächsten Tag spricht er nur noch von seinem „anstrengendsten Lauf“. Am übernächsten Tag schmiedet er bereits Pläne für einen neuen Start im nächsten Jahr und will gleich nach der Rückkehr mit dem Training beginnen, um dann auch unter 9 Stunden zu laufen.)
 
Aus der Presse werden wir in den beiden nächsten Tagen erfahren, dass insgesamt 54 LäuferInnen im Krankenhaus behandelt werden mußten. Überschattet werden die Meldungen vom Tod eines zweiunddreißigjährigen Läufers und siebenfachen Comrades-Teilnehmers. Es ist der dritte Todesfall in 75 Jahren.


Show Down: Sekunden trennen Himmel und Hölle
 
10 Minuten vor Ablauf der Sollzeit gehe ich mit Josef zum Ziel, um das spektakuläre Ende mitzuerleben. Der Läuferstrom wird immer dichter. In den letzten 6 Minuten sind laut Presse 1.600 Läufer eingetroffen. Wir sehen sehr viel Freude und Jubel, aber wir erleben auch, wie nicht mehr gehfähige LäuferInnen getragen, gezogen und geschleift werden. Die Zielkanäle verstopfen, viele Läufer, die vor den verstopften Zielkanälen stehen, kollabieren. Die nicht mehr gehfähigen Läufer können ohnehin nur noch abgelegt werden. Der medizinische Dienst ist jetzt überfordert, Man kommt nicht mehr nach mit dem Abtransport der Kolla-bierten. Der Sprecher heizt die Stimmung an, die Zuschauer toben, die Spannung steigt.
 
Eine Minute vor Schluß wird die Absperrung von etwa 20 kräftigen Männern vorbereitet, die ein dickes Seil festhalten. Chairman Alison West tritt mit ihrer Signalpistole und dem Rücken zu den anstürmenden Läufern vor das Ziel. Ein Sekundant zählt den Count Down. Dann ein Schuß und das Seil wird blitzschnell über die Strecke gespannt. Die gerade ankommenden LäuferInnen akzeptieren die Situation nicht kampflos. Es kommt zu kurzem Gerangel, aber die entkräfteten LäuferInnen haben keine Chance. Viele lassen sich erschöpft fallen oder kollabieren. Der Zielraum gleicht vor und hinter dem Seil einem Schlachtfeld. In der nächsten Stunde werden noch viele Läufer ankommen; die meisten haben resigniert und lassen sich vor dem Ziel fallen.
 
Edda gehört dagegen zu den „Lucky Loosern“. Sie hat nicht nur aus eigener Kraft das Ziel nach 12.32 erreicht, sondern eine Zulu-Frau hat ihr einige Kilometer vor dem Ziel mir den Worten „You are a hero!“ ein Holzkreuz an einem Band geschenkt. Für Edda ist das mehr als ein Medaillenersatz. So konnten wir schließlich doch noch alle als Gewinner die Heimreise antreten.


Epilog
 
Der Comrade vereinigt Ausstrahlung, Erlebniswert und die Erfahrung eigener Grenzen in einer bisher unübertroffenen Intensität und Qualität. Zurück in Deutschland kreisen die Gedanken auch nach einer Woche noch immer um das Erlebte und ich denke bereits an den 76. Comrades im Jahr 2001, der dann wieder als down-run stattfindet. Mit guter Vorbereitung sollte eine Zeit unter 8.30 Stunden möglich sein, wenn ich die Fehler vermeide. Beim nächsten Mal muß ich mich besser vorhydrieren, unterwegs mehr trinken und den Körper gezielter kühlen.


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Comrade: Englisch für Kamerad
 





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Autor und Copyright: Karlheinz Kellert,

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