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Aus alten Zeiten: 24 Stunden unter Glas
 
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13.11.2002 

 

Peter Samulski erinnert sich an die "First ever International Indoor 24 Hours Championships" 1990. Ein 24 Stundenlauf in den Arkaden eines Einkaufs-Zentrums

 

 
Das bundesdeutsche Team mit dem Russen Jurij Esperson (31); Peter Samulsi (19), Harry A. Arndt (28), Monika Kuno (86), Peter Mann (27), Karl-Heinz Springer (23), Helmut Schieke (21), Hans-Martin Erdmann (17) und Renate Nierkens (91).  
Angefangen hatte es eigentlich schon bei der 5. Jahreshauptversammlung der DUV am 29.9.89 in Unna-Lünern, also am Vorabend der 3. DM im 100-km-Lauf. Dort überreichte uns Harry A. Arndt als Sportwart Einladungen des „Ultra Distance Running Committee" of the ,,Road Runners Club (RRC)" zu den „First ever International Indoor 24 Hours Championships" am 3./4, Februar 1990 in Milton Keynes/England. Das Schreiben stammte vom 1. September 89, war von der „International Assocation of Ultrarunners (IAU)" unter der Schirmherrschaft der „International Amateur Ahtletic Föderation" an den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) adressiert und vom Renndirektor John B. Foden unterschrieben.
 
Wir, das waren die Läuferinnen und Läufer, die entsprechend der Qualifikationsnorm innerhalb der letzten zwei Jahre bei den Frauen 205 km (125 miles) bzw. bei den Männern 230 km (140 miles) bei 24-Stunden-Läufen geschafft hatten.
 
Außer der Qualifikation musste für jeden Teilnehmer bescheinigt werden, dass er als nationaler Repräsentant einen Startpass besitzt, Amateur nach den Richtlinien des Weltverbandes IAAF ist und noch nicht in Südafrika gestartet ist.
 
Ursprünglich war die Teilnehmerzahl auf 45 limitiert worden, wobei sich der Veranstalter vorbehielt, gegebenenfalls die Qualifikationsgrenze anzuheben oder das Feld aufzufüllen. Im „Main Shopping Centre" von Milton Keynes, dieser supermodernen, aber wenig schönen Industrie- und Handelsstadt etwa 80 Meilen nordöstlich von London bei Northampton, sollten nach 1984,1987 und 1989 zum vierten Male ein 24-Stunden-Lauf und zum ersten Male inoffizielle Welt-, verbunden mit den ersten Britischen Meisterschaften veranstaltet werden.
 
Als Streckenrekord standen bei den Männern die 262,535 km, die Richard Tout aus Auckland, Neuseeland am 19.2.1989 gelaufen war, und bei den Damen die 229,993 km, die bei derselben Veranstaltung die Engländerin Eleanor Adams, Jg. 48, aus Nottingham, geschafft hatte, so wie sie bisher alle drei Rennen gewonnen hatte, als Bestleistung.

Aufgalopp
 

Dank eines großzügigen Sponsorenpools war es dem Veranstalter schon rechtzeitig möglich, mindest die nichtenglischen „Overseas"-Athleten für 3 Tage in der „Welcome Lodge" auf dem Lande zu beherbergen. Vom DLV, der in der Regel bei nichtolympischen Disziplinen keine Zuschüsse gewähren kann, weil er dafür vom Innenministerium keine Gelder bewilligt bekommt, war nach Harrys Verhandlungen lediglich die leihweise Überlassung von Nationaltrikots zu erreichen, so dass wir für alle erkenntlich als bundesdeutsche Mannschaften antreten konnten. Aufgrund unserer Eigeninitiativen erhielten einige von uns Geld- oder Sachspenden von Herstellern, Firmen und einer Fluggesellschaft, so dass teilweise auch die Fahrtkosten und die Ausrüstung abgedeckt waren. So wurde es für uns und unser eingespieltes Betreuerteam, das aus Sigrid Arndt, Peter Döring, Bernd Haeb, Gudrun Schieke und Ursula Springer bestand, kein allzu großes Zusatzgeschäft.
 
Der Parcours war ein Rundkurs von 980 m Länge in den Arkaden des zentralen Einkaufszentrums, vorbei an Geschäften, Restaurants, Büros, sanitären Einrichtungen und kleinen Gängen. Die Hauptwege waren etwa 10 m hoch und 3 m breit. Die Belüftung ohne Klimaanlage, auch die vorhandene Sprinkleranlage wurde nicht benötigt, weil wir nicht ,,heißliefen", war durch die Öffnung der Außentüren frisch und die Beleuchtung durch die dezenten Straßenlaternen zwischen den bepflanzten Mitteltrögen unaufdringlich. Da die Wegeplatten völlig eben waren, hätte man eigentlich dankbar sein müssen, dass man in der unberechenbaren Winterzeit unabhängig von Witterungsbedingungen und Temperaturschwankungen laufen durfte. Noch am Vormittag des Starttages war ein Orkan mit Spitzengeschwindigkeiten bis zu 168 km und Schnee- und Hagelschauern über Großbritannien hinweggebraust und wir hatten uns im warmen Zimmer beruhigt „die Hände gerieben". Ja, wenn da nicht zu jeder Laufstrecke auch noch ein Boden gehören würde. Die weißen Marmorplatten waren aber so erbarmungslos hart, dass jeder Teilnehmer mehr oder minder seinen Tribut zahlen musste.
 
Eigentlich sollten zur Startzeit am Samstagabend um 20.00 Uhr, nach unserer Festlandzeit also um 21.00 Uhr, genau 50 Teilnehmer gestartet werden, aber nach einigem Hin und Her nahmen dann 54 die Zerreißprobe auf. Jurij Esperson aus der Sowjetunion war beispielsweise ohne Visum angereist und wurde deshalb erst einmal für 20 Stunden inhaftiert. Erst gegen Mittag des Starttages wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt und konnte sich kaum noch richtig vorbereiten. Noch schlimmer erging es seinem Landsmann Christenol Valery, der überhaupt erst 3 Stunden nach dem offiziellen Start in den Lauf einsteigen konnte. Beide schafften noch je 168,340 km. Da aber schon frühzeitig einige Teilnehmer ausfielen, konnten die freiwilligen Rundenzähler, die man nur wenige Sekunden während jeder Umkreisung sah, ihre Arbeit korrekt abwickeln. Sie hielten zum Zeichen des Erkennens unsere Startnummern hoch, zeigten die glatten Runden- oder Kilometerangaben an und haben sich bestimmt nicht verzählt. Zur Kontrolle gab es auch noch Streckenposten mit Sprechfunkgeräten und eine Videoüberwachung.

Im Glaskasten
 
 
Die 24 Stunden von Milton Keynes, Jurij Esperson (li.) und Peter Samulski.  

Die Läden waren um 18.00 Uhr geschlossen worden. Als wir uns auf den langen Marsch machten, waren wir mit den Offiziellen und Betreuern fast unter uns. Einige wenige Schaufensterbummler, Lokalgäste und Skateboarder hinter der Flatterbandabsperrung nahmen wenig Notiz von uns. Gelegentlichen Applaus gab es nur von den Rundenzählern, Aufmunterungen vom eigenen Anhang und dem Mitbewerb. In den Kernstunden der Nacht wurden auch noch die letzten Passanten ausgesperrt, so dass wir mit ein paar verirrten Spatzen, dem Reinigungsgeschwader und dem Sicherheits-,,Marshalls" unter Ausschluss der Öffentlichkeit liefen. Ab und zu drückte sich ein Nachtschwärmer die Nase platt und wunderte sich wohl, dass wir wie die Mäuse im Käfig herumliefen — immer im Kreis, alle 6 Stunden mit Richtungswechsel. Man kam sich zeitweise wie im Aquarium vor. Der tote Punkt in dieser sternenklaren Februarnacht lag zwischen 1.00 Uhr und 6.00 Uhr, also in der Zeit, in der statistisch die meisten Kinder geboren werden und die meisten Menschen sterben. In dieser bedrückenden Phase bekamen viele ihren „Kolbenfresser", vor allem die Unvernünftigen, die es schon zu Beginn wissen wollten. Bei mir waren es beide Oberschenkel, die dieser knochenharte Marmorboden bereits nach 5 Stunden übersäuern ließ. Hätte ich doch bloß auf unserer Fensterbank trainiert! Die restlichen 19 Stunden waren ein Durchhaltemanöver mit Schmerzen, Qualen und Verdrängungstricks wie Walkman, Schuh- und Gangwechsel oder „Colarausch" — andere sah ich Aspirin schlucken. ,,Lerne leiden, ohne zu klagen", war für viele die Devise. In diesem Lauf, in dem es scheinbar keinen Selbstschutz zu geben schien, konnte ich teilweise wenig schöne Bilder sehen. So lief beispielsweise der spätere Sieger Don Ritchie stundenlang mit tropfendem Nasenbluten und Verätzungsstäbchen und musste nach seinem Erfolg sofort ins Hospital gefahren werden.

 
Erst als die rote Morgensonne aufging, erwachte das Leben und Treiben wieder. Die Spaziergänger kamen nach und nach ins Gebäude, die Restaurants verbreiteten Geräusche und Gerüche, die Geschäfte wurden für den Winterschlussverkauf umdekoriert oder erhielten eine Revision und die Kinder wollten nicht glauben, dass wir immer noch da waren. Die Minimalbesetzung der Betreuermannschaften wurde wieder aufgestockt, wobei wir aber zu keiner Zeit vernachlässigt wurden, denn neben den eigenen Anhängern waren da noch die zwischenmenschlichen Beziehungen zu den anderen Athleten und ihren Begleitfeldern der insgesamt 13 Nationen und die offiziellen Verpfleger, die Getränke, Obst und Speisen bereithielten.
 
Bei den Männern siegte der 45jährige Schotte Don Ritchie, der mit 267,840 km (166,0429 miles) einen neuen Indoor-Weltrekord aufstellte. Zweiter wurde der 46jährige Australier Bryan Smith mit 251,501 km, Dritter mit 248,340 km der 41 jährige Amerikaner Roy Pirrung. Als Vierter und damit erster Deutscher kam auch schon Helmut Schieke, der mit 246,795 km den bis dahin geltenden Indoor-Weltrekord der über 50jährigen um 16,395 km verbesserte. Mit mir als Achtem mit 234,335 km und Hans-Martin Erdmann mit 233,442 km als Neuntem holte sich die deutsche Mannschaft 1 mit zusammen 714,572 km überraschend die Goldmedaille vor Frankreich, Australien und dem favorisierten England und wurde damit erstmals die beste Mannschaft der Welt. Unsere zweite Mannschaft wurde leider vom Verletzungspech ungleich schwerer betroffen. So wurden für Peter Mann 225,280 km (= 13. Platz), Karl-Heinz Springer 200,263 km (= 22. Platz) und Harry Arndt 162,033 km (= 30. Platz) gezählt.
 
Bei den Frauen gewann erwartungsgemäß wieder als Gesamt-Siebte Eleanor Adams, die mit 236,651 km ebenfalls den Streckenrekord verbesserte. Zweite und Gesamt-13. wurde die Engländerin Marianne Savage mit 228,063 km und als Dritte und zugleich Gesamt-17. folgte bereits Monika Kuno, die mit 217,965 km die bestehende Indoor-Weltbestleistung ihrer Altersklasse von 186,499 km deutlich übertraf. Renate Nierkens als Gesamt34. und achte Frau erreichte 180,719 km.
 
Sieben Teilnehmer wurden als "Ausgestiegen" registriert, sieben weitere mussten nach dem Abschießen, als die Schmerzen so schön nachließen und die Gleichgewichtsstörungen in gleichem Maße zunahmen, im Krankenhaus ärztlich behandelt werden. An der Siegerehrung, die gleich anschließend in einem nahe liegenden Nobelhotel stattfand, gäbe es einiges auszusetzen.
 
Laufberichte sollten nicht nur schönfärberisch geschrieben werden, um der Chronistenpflicht zu genügen. Man sollte auch Interessierten Empfehlungen oder Ratschläge geben, oder, wie im vorliegenden Falle, auch einmal abraten.
 
Mich jedenfalls sieht Milton Keynes so schnell nicht wieder, es sei denn, ich gleite mit Filzpantoffeln wie ein Museumsbesucher über diesen abgeschirmten königlichen Palastboden. Denn selbst wenn man bedenkt, dass es durchaus auch weichere Böden für einen 24-Stunden-Lauf gibt, etwa durch die Einbeziehung eines Stadions, so fehlten mir ganz einfach auch die Umweltgeräusche und -gerüche, der Geschmack der Natur und das Gefühl der Witterung.
 
Selbst ein Ultralanger ist glücklicherweise noch kein Laufroboter.




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Autor und Copyright: Peter Samulski für Laufen-in-Koeln