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Im folgenden sei beschrieben, warum die
angenehme Auswirkung des Laufens selbst wieder zur Ursache werden kann, und
welche Rolle erstaunliche Substanzen in unserem Körper dabei spielen. Dass
Laufen zur Sucht werden kann, ist nämlich nicht nur gängiges Vorurteil, sondern
hat durchaus einen realen Hintergrund:
Nach zwanzig Kilometern spürt man noch keine Ermüdung, wenn die
Zeiteinteilung stimmt. Bisher scheint's zu passen, es geht wie von selbst.
Solange der Körper mitmacht, gibt es bei einem großen Marathonlauf keine
mentalen Probleme. Ein Hochgefühl. Man läuft und läuft und... Und die Hälfte ist
schon fast vorbei. Heute klappt es sicher. Zweifünfzig, wenn's ganz gut geht.
Wenn es schlimm wird, immer noch unter drei Stunden. Damit kann ich zufrieden
sein, im zweiten Marathon, manche beißen da ein Läuferleben lang hin. Vergiss
die Rechnerei, in einer Stunde sieht alles ganz anders aus. Tempo gleichmäßig
halten, trinken nicht vergessen. Mit den Bechern geht's schlecht, wenn du keine
Zeit verlieren willst, verschüttest du alles. Bald müssen meine Leute an der
Strecke sein mit der eigenen Verpflegung. Die sind wahrscheinlich aufgeregter
als ich.
Laufen macht nämlich wirklich süchtig. Nicht, dass schwere Entzugserscheinungen
aufträten wie bei den starken Suchtgiften, wenn auf das Laufen verzichtet werden
muss, aber eine gewisse Unausgeglichenheit und Unbehaglichkeit stellt sich schon
ein. Die nächste Laufgelegenheit wird unruhig erwartet, Zufriedenheit tritt erst
nach Ableistung des Pensums auf. Die "Dosis", sprich die gelaufenen Kilometer
oder die Geschwindigkeit, muss immer weiter gesteigert werden, um eine gleich
bleibende Wirkung zu erzielen. Schuld daran sind von uns produzierte so genannte
endogene Opioide. So bezeichnen die Biochemiker Stoffe, die von unserem Körper
gebildet werden und in ihrer Wirkung Opiaten ähneln. Vertreter dieser Opioide
sind zum Beispiel die Enkephaline und Endorphine. Diese Eiweißstoffe mit
hormonellen Funktionen sind an fast allen Vorgängen in unserem Körper beteiligt.
Schon vor unserer Zeitrechnung war das aus dem Schlafmohn gewonnene Opium,
schmerzstillend und euphorieauslösend, bekannt. Aus dem Opium wurden
verschiedene natürliche Opiate, wie das Morphin und das Kodein, isoliert. Später
ließen sich auch künstlich Opiate, am bekanntesten das Heroin, synthetisch
herstellen. Bei der Erforschung ihrer Wirkungsweise wurden in den siebziger
Jahren bei Mensch und Tier spezifische Bindungsstellen gefunden, an die sich
diese künstlich erzeugten Stoffe anlagern. Wenn der Körper aber schon voller
Rezeptoren ist, muss er die dazu passenden Substanzen wohl auch selbst bilden
können. Die Wissenschaftler machten sich also auf die Suche nach den mit den
Opiaten vergleichbaren körpereigenen Stoffen.
1975 wurde das erste Mal ein endogenes Opiat entdeckt und seither vermehrte sich
das Wissen über diese Substanzen immens. Im Vordergrund stehen die, vom Opium
her schon bekannte, beruhigende, schmerzstillende und Euphorie hervorrufende
Wirkung. Die endogenen Opiate sind die körpereigenen Seligmacher. Produziert
werden sie vermehrt, wenn wir einer Stresssituation, einer Belastung, Schmerzen
ausgesetzt sind. Und Laufen ist für den Körper Stress, wenn auch nicht immer im
negativen Sinn.
Jeder Langstreckenläufer spürt die Wirkung der durch die Belastung induzierten
Endorphine. Wenn er sich genau beobachtet, kann er sogar ungefähr die Distanz
angeben, nach der sie zu wirken beginnen. Die Stimmung wird dann ruhiger,
gelöster. Das Laufen fällt leichter, das Vertrauen in das eigene
Leistungsvermögen steigt. Man hängt seinen Gedanken nach, das Zeitempfinden
lässt nach. Die Euphorie wird überdeckt, wenn die Belastung zu stark wird, dann
aber wird die schmerzstillende Wirkung um so deutlicher. Die Strapazen der
letzten Kilometer eines Marathonlaufs werden bei Weitem nicht mehr so
wahrgenommen, wie sie wohl sind. Schmerzen, die nach 15 Kilometern noch spürbar
sind, verlieren sich später; sie kommen erst Stunden nach dem Lauf wieder.
Die endogenen Opiate haben eine Vielzahl weiterer Funktionen in unserem Körper.
Sie stimulieren das Immunsystem, wenn eine Belastungssituation es erfordert.
Läufer sind auch aus diesem Grund gesünder, solange sie sich nicht zu sehr
überfordern. Endorphine hemmen die Fruchtbarkeit, ein in der Natur unter
Stressbedingungen sinnvoller Vorgang, merkbar allerdings nur bei extremen
Beanspruchungen. Und, wie gesagt, sie machen süchtig. Diese Sucht ist nicht mit
der durch verabreichte Opiate hervorgerufenen zu vergleichen. Solche
körpereigenen Vorgänge bleiben maßvoller, ohne schädliche Nebenwirkungen und vor
allem wegen des durch das Laufen bewußteren Umgangs mit sich selbst
kontrollierbar.
Daneben werden natürlich auch andere Hormonsysteme durch das Training
beeinflusst. Großen Einfluss auf unsere Persönlichkeit hat die Veränderung im
autonomen, vegetativen Teil des Nervensystems. Der durch den Vagusnerv (den
"Ruhenerv") repräsentierte parasympathische Anteil gewinnt größeres Gewicht
gegenüber dem sympathischen, aktivierenden Anteil. Neben physiologischen
Veränderungen, zum Beispiel einer Verlangsamung der Herzfrequenz, stehen mentale
Wirkungen. Läufer sind deshalb eher ruhigere, ausgeglichener, nicht so leicht
gestresste Mitmenschen.
Jetzt wird's langsam härter, die Schritte werden
bewusster, jeder Kilometer ist länger als der vorherige. Ludwig ist ab Kilometer
23 zurückgefallen. Das Anfangstempo hat ihn aufgearbeitet. Eigentlich ist er
besser als ich. Einfach zu wenig gelaufen in den letzten Wochen. Die Zeit fehlt.
Zeit verplanen, Zeit einteilen, Zeit erübrigen. Zeit ist relativ, und jetzt
vergeht sie immer langsamer. Noch zwölf Kilometer, nur noch. Im Training zählen
zwölf Kilometer gar nicht. Es geht schon irgendwie. Einfach dran glauben. Nicht
nachdenken, du kannst sowieso nicht mehr zurück. Weiterlaufen. Trinken, an die
nächste Verpflegungsstelle denken. Du musst dir's zutrauen. Du hast dich
untersuchen lassen. Laktatwerte. Demnach hättest du schneller laufen dürfen. Die
anderen plagen sich auch. Einige gehen schon. Es geht dir doch noch ganz gut,
letztes mal war's nach dreißig Kilometern viel schlimmer. Die Zeit stimmt genau.
Dass du kämpfen musst, hast du voher gewusst. Du trainierst doch nicht ein
halbes Jahr wie ein Irrer und lässt dich jetzt hängen. Also an Jemandem
dranbleiben und das Tempo halten.
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Autor und Copyright: Detlev Ackermann, Laufen-in-Koeln
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