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Ein Bericht von Volkmar Mühl (DLV-Nationalteamleiter
100 km):
Die Europameisterschaften im 100-Kilometer-Lauf entwickeln sich immer mehr zu
einem Fortsetzungskrimi. Fehlten der Wittenerin Birgit Schönherr-Hölscher im
vergangenen Jahr in Winschote (Niederlande) gerade drei Sekunden zum Titel, so
lagen diesmal am vergangenen Wochenende im belgischen Torhout immerhin 38
Sekunden zwischen ihr und der Zweitplatzierten Laurence Fricotteau aus
Frankreich. Das Rennen, insbesondere die Phase der letzten 20 Kilometer, verlief
dabei beinahe noch dramatischer als 2005.
Die 20.000-Einwohner zählende
Stadt in Flandern war in diesem Jahr zum zweiten Mal Austragungsort der
100-Kilometer-Europameisterschaft, die wiederum ihre 15. Auflage erlebte. Beim
Start um 20 Uhr herrschte am Freitag mit Temperaturen um die 23 Grad bestes
Sommerwetter. Für Ultramarathonläufer war dies allerdings eher zu warm, dafür
sollten die Temperaturen nach Sonnenuntergang recht schnell läuferfreundlichere
15 bis 16 Grad erreichen.
Südeuropäer von Beginn an in Front
Vom Start weg übernahm der
Spanier Jose Maria Gonzales mit Kilometerzeiten von 3:45 Minuten das Kommando,
hinter ihm bildete sich eine Verfolgergruppe mit allen sechs russischen sowie
drei weiteren spanischen Läufern. Auch die im vergangenen Jahr Zweit- und
Drittplatzierten, Mario Ardemagni aus Italien sowie der Franzose Pascal Fetizon,
gehörten dieser Gruppe an.
Bei den Frauen ging die noch
amtierende Europameisterin Monica Casiraghi (Italien) stürmisch in Front, die
10-Kilometer-Marke passierte sie in rund 43 Minuten, dahinter kam die Russin
Nadezhda Karaseva, ihr folgte eine Fünfergruppe mit drei französischen
Läuferinnen, einer weiteren Russin und der Deutschen Meisterin Birgit
Schönherr-Hölscher.
Die Männerspitze passierte die
50-Kilometer-Marke in drei Stunden und sieben Minuten, was auf eine mögliche
Endzeit von 6:20 Stunden hindeutete, bei den Frauen hatte Monica Casiraghi mit
3:50:40 Stunden bereits deutlich an Tempo verloren. Birgit Schönherr-Hölscher
ging als Siebte in 3:59:59 Stunden durch.
Typische Probleme beim Nachtlauf
In der nun einsetzenden Phase
zwischen Kilometer 50 und 60 setzten bei zahlreichen Teilnehmern im Bereich der
Spitze ernsthafte Schwierigkeiten ein. Meist handelte es sich um Magenprobleme,
der Stoffwechsel passt sich unter Wettkampfbedingungen nicht ohne weiteres an
die Nachtzeit an. Manche wurden auch Opfer eines zu hohen Anfangstempos. In der
Folge stiegen unter anderem Monica Casiraghi und die beiden bis dahin
schnellsten Russinnen ebenso wie Mario Ardemagni (Italien) aus.
Auch das deutsche Männerteam,
allesamt verhalten in den Wettkampf gestartet, blieb davon nicht verschont:
Thomas König (SuL Lößnitz) und Dr. Thomas Miksch (TV Jahn Kempten) wurden zu
einer deutlichen Temporeduzierung gezwungen, auch der deutsche Meister Michael
Sommer (EK Schwaikheim) hatte mit einigen körperlichen Problemen zu kämpfen, die
er aber später wieder in den Griff bekommen sollte.
Für Jutta Kolenc (TG Biberach)
bedeutete das frühe Auftreten einer eigentlich längst überwundenen alten
Fersenverletzung aus dem Vorjahr allerdings das Aus bei Kilometer 40, die
übrigen DLV-Frauen arbeiteten sich nun Platz für Platz nach vorne.
Jose Maria Gonzales stark
Der Führende Jose Maria
Gonzales wurde ebenfalls etwas langsamer, erzielte als Sieger mit 6:23:44
Stunden aber dennoch eine Klassezeit, die gleichzeitig eine neue
Jahresweltbestleistung bedeutet. Platz zwei belegte der Weißrusse Dzmitry Bula
in ebenfalls herausragenden 6:33:56 Stunden, den Kampf um Platz drei entschied
der Franzose Yannick Djouadi mit gleichfalls glänzenden 6:38:19 Stunden gerade
einmal drei Sekunden vor seinem Landsmann Pascal Fetizon für sich.
Michael Sommer konnte mit einer
starken Schlussphase noch einmal Boden gut machen und beendete den Wettkampf als
bester Deutscher auf Rang 14 in 7:10:35 Stunden. Nationalteam-Debütant Sven
Kersten (SCC Berlin) kam als zweiter Deutscher mit einem taktisch hervorragend
eingeteilten Rennen in neuer persönlicher Bestzeit von 7:21:42 Stunden auf Platz
18, Michael Becker (LG Leipzig Grünau) erzielte Platz 25 in 7:31:39 Stunden.
Thomas König belegte in 7:47:18 Stunden Platz 30, Dr. Thomas Miksch folgte in
7:50:15 Stunden einen Rang dahinter.
In der Mannschaftswertung
errang das DLV-Team Platz fünf (22:03:56 h) mit nur 51 Sekunden Rückstand hinter
Italien. Der Sieg ging an Spanien (20:00:24 h) vor Frankreich (20:11:58 h) und
Russland (20:33:59 h).
Packendes Frauenfinale
Bei den Frauen wurde es zur
Schlussphase hin hochdramatisch. In den letzten Tagen vor dem Wettkampf hatte im
deutschen Team noch große Sorge geherrscht, ob Birgit Schönherr-Hölscher
aufgrund eines aktuellen Infekts überhaupt würde an den Start gehen können.
Erfreulicherweise klang die leichte Erkältung buchstäblich in letzter Minute ab,
stellte aber fraglos ein ernsthaftes Wettkampfhandicap für die Deutsche
Meisterin dar.
So hatte sie denn auch zwischen
Kilometer 30 und 50 in einer vorübergehenden Phase hoher Luftfeuchtigkeit das
Tempo etwas herausnehmen müssen. Bei Kilometer 60 aber, durch die Ausstiege in
der Spitze nun auf Platz fünf liegend, ging es der Wittenerin wieder besser und
sie begann, Tuchfühlung zur Gruppe der Führenden aufzunehmen. Der Abstand
verringerte sich zusehends.
Französinnen gehen zu dritt in die letzten 20 Kilometer
Bei Kilometer 78 gingen drei
Französinnen Schulter an Schulter hinter dem Führungsfahrzeug durch. Birgit
Schönherr-Hölscher wiederum wies 2:15 Minuten Rückstand auf die Spitzengruppe
auf.
Ganze neun Kilometer später bot
sich folgendes Bild: Birgit Schönherr-Hölscher war in Front, die Gruppe der drei
Französinnen auseinandergerissen. Die Deutsche hatte alles auf eine Karte
gesetzt, die Gruppe mit einer deutlichen Tempoverschärfung gesprengt und lag
bereits gut 100 Meter vor Laurence Fricotteau.
Birgit Schönherr-Hölscher mit starkem Finish
Nachdem sie den Abstand zur
Französin zunächst noch weiter ausbauen konnte, legte fünf Kilometer vor Schluss
auch Laurence Fricotteau noch einmal deutlich zu und hatte sich gut einen
Kilometer vor dem Ziel bereits wieder auf cirka 70 Meter herangearbeitet.
Als ich dies merkte, hatte ich
nur noch einen Gedanken: So wie bei der EM 2005 darf es dir heute nicht
ergehen, meinte Birgit Schönherr-Hölscher später im Ziel. Die praktische
Umsetzung dieser Überlegung bedeutete die Konsequenz eines langgezogenen
Schlussspurts, der ihr am Ende schließlich 38 Sekunden Vorsprung sicherte und
den EM-Titel in der Zeit von 7:58:44 Stunden!
DLV-Frauen mit Top-Platzierungen und Team-Silber
Auch die übrigen deutschen
Frauen lieferten unter den erschwerten Bedingungen eines Nachtlaufs sowie noch
mit der erst vor sieben Wochen absolvierten 100-Kilometer-DM in den Beinen
bemerkenswerte Ergebnisse ab. Die deutsche Vizemeisterin Marion Braun (SV
Germania Eicherscheid) errang Platz sechs in 8:26:04 Stunden, Carmen Hildebrand
(SSC Hanau/Rodenbach) folgte in 8:32:12 Stunden auf Platz sieben, Barbara
Austermann (LG Ahlen) gelang beim ersten Einsatz für den DLV mit 8:48:58 Stunden
bereits ein Rang unter den Top Acht Europas, Simone Stöppler (SSC
Hanau/Rodenbach) kam knapp dahinter auf Platz 9 in 8:49:52 Stunden.
Damit holte das DLV-Frauenteam
mit 24:57:00 Stunden die Silbermedaille in der Mannschaftswertung hinter den
französischen Frauen (24:14:37 h), welche in der Einzelwertung die Plätze zwei
(Laurence Fricotteau in 7:59:22 Stunden), drei (Christine Lelan in 8:01:54
Stunden) und vier (Magal Reymoneng-Maggali in 8:13:21 Stunden) belegten. Auf
Rang drei folgte die Mannschaft von Italien in 27:32:07 Stunden.
Erfolgsfaktor Betreuung
Ermöglicht wurden die starken
Leistungen der DLV-Ultramarathonläufer/Innen unter anderem durch den Einsatz
eines gut besetzten Betreuerteams, welches an allen sechs Verpflegungsstellen
auf der 28.670 km-Runde eine optimale Verpflegungsübergabe sicherstellte und
auch sonst für alles sorgte, was Ultramarathonläufer/Innen unterwegs benötigen.
Wolfgang Braun, Fritz Stöppler,
Jochen Kümpel, Heinrich Scholtyssek, Markus Mallmann, Andreas Mästle, Wolfgang
Krampert, Frank Müller, Johann Sommer, Angela Becker, David Schönherr und Felix
Mühl gaben in diesem Sinne ihr Bestes, um die Läuferinnen und Läufer zufrieden
zu stellen.
Weltjahresbestleistung bleibt in Deutschland
Erfreulich war aus deutscher
Sicht auch, dass die von Birgit Schönherr-Hölscher anlässlich der Deutschen
Meisterschaft in Rodenbach aufgestellte Jahresweltbestleistung der Frauen von
7:48:33 Stunden nach Ablauf der ersten Saisonhälfte weiterhin Bestand hat.
Deutsche Meisterin, Europameisterin und Weltranglistenerste, Deutschland hat im
Ultramarathonlauf eine starke Athletin vorzuweisen.
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Das deutsche
Team für die Europameisterschaften im 100-Kilometer-Lauf |
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Autor und Copyright: Volkmar Mühl
Foto: Volkmar Mühl
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